Warum Multitasking tatsächlich dein Gehirn austrickst – und was es mit deiner Produktivität macht
Du sitzt im Homeoffice, checkst während des Video-Calls deine E-Mails, schreibst eine WhatsApp-Nachricht an deine Partnerin und scrollst durch die Nachrichten-App – alles gleichzeitig. Klingt effizient, oder?
Falsch gedacht. Was sich wie moderne Produktivität anfühlt, ist in Wirklichkeit ein psychologischer Trugschluss. Multitasking bei komplexen Aufgaben existiert nicht wirklich – dein Gehirn ist dafür schlicht nicht gemacht.
Der große Multitasking-Mythos: Warum dein Gehirn nicht parallel arbeitet
Neuropsychologisch ist klar: Dein Gehirn kann nicht zwei anspruchsvolle Aufgaben gleichzeitig bearbeiten. Was wir für Multitasking halten, ist in Wahrheit Task-Switching – also das schnelle Umschalten zwischen Tätigkeiten. Dabei entstehen sogenannte kognitive Kosten: mentale Energieverluste, Leistungsabfall, mehr Fehler und ein erhöhtes Stressniveau.
Dr. Earl Miller vom MIT beschreibt es treffend: „Menschen können nicht multitasken. Wenn sie glauben, sie würden es tun, springen sie in Wahrheit nur sehr schnell von einer Aufgabe zur nächsten – mit jeder Menge kognitiven Kosten.“
Jeder Aufgabenwechsel ist also vergleichbar mit einem kleinen Energieverlust. Du verlierst nicht nur Zeit, sondern auch Konzentration. Multitasking ist weniger Superkraft als vielmehr Konzentrationskiller.
Was passiert wirklich in deinem Kopf beim „Multitasking“?
Im präfrontalen Kortex – deinem mentalen Kontrollzentrum – können höchstens eine komplexe Aufgabe sowie eventuell eine automatisierte Nebenfunktion parallel laufen. Sobald zwei anspruchsvolle Prozesse konkurrieren, muss dein Gehirn umschalten.
2009 zeigte eine Studie der Stanford University: Menschen, die regelmäßig viele Medien gleichzeitig nutzen („Heavy Multitasker“), schnitten bei Tests zur Informationsverarbeitung, Reaktionsgeschwindigkeit und Gedächtnisleistung durchweg schlechter ab als Wenig-Multitasker. Je mehr Multitasking, desto geringere geistige Leistung.
- Ausblendung irrelevanter Informationen
- Organisation des Arbeitsgedächtnisses
- Wechsel zwischen Aufgaben
Anders gesagt: Die Personen, die am meisten multitasken, sind genau darin am schlechtesten.
Der Switching-Cost: Warum jeder Aufgabenwechsel dich Energie kostet
Psychologinnen und Psychologen sprechen vom Task-Switching-Cost. Und dieser Preis ist beachtlich: Studien zeigen, dass es durchschnittlich 23 Minuten und 15 Sekunden dauert, bis das Gehirn nach einer Unterbrechung wieder volle Konzentration erreicht.
Dr. Sophie Leroy nennt dieses Phänomen „Attention Residue“. Das bedeutet: Ein Teil deiner Aufmerksamkeit klebt nach dem Wechsel noch an der vorigen Aufgabe. Deine kognitive Leistungsfähigkeit ist dadurch insgesamt reduziert – auch wenn du das Gefühl hast, „schneller“ zu sein.
Multitasking im Alltag: Wo wir uns täglich selbst sabotieren
Im Homeoffice: Das Ablenkungs-Feuerwerk
Ob Smartphone, E-Mails oder Benachrichtigungen – im Homeoffice treffen alle Multitasking-Fallen aufeinander. Zwei Beispiele aus dem Alltag:
Szenario 1: Während eines Meetings vibriert dein Handy. Du wirfst einen Blick auf die Nachricht – und hast nach wenigen Sekunden den Gesprächsfaden verloren.
Szenario 2: Du willst „kurz“ deine Mails checken und verlierst dich in Antworten, Newslettern und offenen Aufgaben. Als du zurück zu deiner eigentlichen Arbeit willst, brauchst du Minuten, um wieder reinzukommen.
Unterwegs: Überforderung statt Effizienz
In der Bahn hörst du Podcasts, scrollst durch Social Media und versuchst berufliche Mails zu beantworten. Das fühlt sich produktiv an, ist aber meist ineffektiv: Deine Antworten werden ungenau und deine Konzentration leidet.
Beim Sport: Präsent sein heißt, besser trainieren
Wer während des Workouts eine Serie schaut, Nachrichten beantwortet oder seine Statistiken trackt, bekommt davon körperlich weniger zurück. Sportpsychologen betonen: Bewusste Körperwahrnehmung ist entscheidend für saubere Technik und nachhaltiges Trainingsergebnis.
Männer und Multitasking: Ein Mythos unter Druck
Viele Männer halten sich für besonders multitaskingfähig – Studien zeigen jedoch: Die tatsächliche Leistung unterscheidet sich kaum zwischen den Geschlechtern. Dafür neigen Männer dazu, ihre Kompetenz zu überschätzen. Das liegt oft an gesellschaftlichen Rollenerwartungen, in denen Produktivität gleich Effizienz bedeutet – selbst wenn Letztere nur ein Trugbild ist.
Die Dopamin-Falle: Warum Multitasking sich gut anfühlt – obwohl es schadet
Mit jeder neuen Nachricht, jedem Like oder Tab-Wechsel erhält dein Gehirn einen winzigen Dopamin-Schub. Dieses Belohnungshormon signalisiert uns: „Gut gemacht!“ – auch wenn objektiv nichts geschafft wurde.
Dieses Verhalten macht süchtig nach Neuheit, schnell wechselnden Inhalten und Dauerablenkung. Die Folge: Erschöpfung bei gleichzeitigem Gefühl, produktiv gewesen zu sein – obwohl das Gegenteil der Fall ist.
Single-Tasking: Der unterschätzte Produktivitäts-Booster
Die gute Nachricht? Es gibt eine Lösung – sie ist altmodisch und gleichzeitig revolutionär: Single-Tasking. Wer bewusst eine Aufgabe nach der anderen erledigt, arbeitet klarer, fehlerfreier und effizienter.
Single-Tasking-Regeln für jeden Tag
- Ein Bildschirm – eine Aufgabe: Schließe alle Browser-Tabs außer dem, den du gerade brauchst.
- Handy – außer Reichweite: Aktiviere den „Nicht stören“-Modus oder lege es in einen anderen Raum.
- Zeitblöcke strukturieren: Plane Tätigkeiten in 25- bis 50-Minuten-Segmenten – ohne Unterbrechungen.
Single-Tasking in Aktion: Alltag verbessern durch Fokus
Im Job: Deep Work statt Dauerstress
Das Konzept des „Deep Work“ – geprägt von Cal Newport – beschreibt fokussiertes Arbeiten ohne Ablenkung. Es steigert Leistung und Kreativität besonders bei anspruchsvollen Aufgaben.
- Plane feste Deep-Work-Zeiträume in deinem Kalender ein
- Bearbeite E-Mails nur zu festgelegten Zeiten
- Fasse Meetings in ein Zeitfenster zusammen statt einzelne Slots über den Tag zu verteilen
Zu Hause: Mehr Qualität durch echte Präsenz
Eine Viertelstunde ungeteilter Aufmerksamkeit für die Familie wiegt mehr als eine Stunde halbherziger Smalltalk. Kinder merken intuitiv, wenn wir wirklich anwesend sind – und reagieren positiv, wenn wir uns ganz ihnen widmen.
Die Wissenschaft bestätigt: Single-Tasking funktioniert
Dr. David Meyer zeigte in seinen Studien: Wer ständig zwischen Aufgaben hin- und herschaltet, verlangsamt seine Leistung bei komplexen Tätigkeiten um bis zu 25%.
Weitere Untersuchungen belegen: Single-Tasking kann Stress reduzieren, die Gedächtnisleistung verbessern und das kreative Problemlösungsverhalten steigern. Die Jobzufriedenheit steigt ebenfalls deutlich an, wenn Unterbrechungen reduziert und Fokuszeiten gefördert werden.
Fazit: Dein Gehirn ist kein Computer – und das ist gut so
Anders als Maschinen ist unser Gehirn nicht für paralleles Arbeiten gemacht. Es liefert seine beste Leistung, wenn es genau eine Aufgabe in den Mittelpunkt stellen darf. Wer versucht, gleichzeitig zu denken, zu schreiben und zu kommunizieren, überlastet sich selbst – langfristig körperlich und geistig.
Multitasking ist eine moderne Legende. Single-Tasking ist die bewährte Alternative – klar, fokussiert und produktiv. Beginne heute damit, eines nach dem anderen zu tun. Deine Konzentration wird steigen, deine Ergebnisse sich verbessern – und am Ende des Tages wirst du weniger erschöpft und deutlich zufriedener sein.
Und falls du diesen Artikel während eines Zoom-Calls gelesen hast: Jetzt weißt du zumindest, warum du beim nächsten Meeting wieder von vorn zuhören musst. Kein Problem – wir alle lernen noch.
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